Donnerstag, 4. August 2011

Leben mit der Katastrophe

 
Nachdruck von:
 
 
Leben mit der Katastrophe
 
Bremerhaven. Alle paar Tage bebt wieder die Erde. Alle paar Tage sucht Söhnchen Mion Schutz auf Papas Arm. Alle paar Tage kommen im Fernsehen die neuen Radioaktivitäts-Werte. Und jeden Tag proben Andreas Sug und seine Familie so etwas wie Alltagsnormalität. „Man verdrängt die Angst. Sonst könnten wir nicht dort leben“, sagt der Bremerhavener, der rund 150 Kilometer südlich von Fukushima ein neues Zuhause gefunden hat. Von Susanne Schwan 
 
Als im März die Katastrophen über Japans Ostküste hereinbrachen, war der 44-Jährige daheim in Hokota, 15 Kilometer von der verwüsteten Küste. Dort saß er fest, konnte den 85. Geburtstag seiner Mutter in Bremerhaven nicht mitfeiern. Das holt er nun nach – für ein paar Tage ist Sug wieder hier, „ohne meine Frau Shinobu und meinen Sohn Mion“.
Hokota war nicht so schwer vom Beben getroffen wie nördlichere Gemeinden, dennoch: „Unser Holzhaus hat Risse, die Straßen erst recht. Es sind zwar überall Straßenbauarbeiter unterwegs. Aber es sind noch zwei große Beben um Stärke sieben herum angekündigt. Gerade hatten wir eines mit 5,5.“

Kein Vertrauen in Regierung

„Anders als viele Japaner traue ich den beruhigenden Durchsagen der Regierung im japanischen Fernsehen nicht.“ Radioaktivität – ein diffuses Schreckgespenst. „An jeder Schule ist ein Lehrer mit täglichen Messungen der Luft und der schuleigenen Pools beauftragt und hat das Gerät ständig auf der Brust“, berichtet der Englischlehrer, der an zehn Grundschulen unterrichtet, seit die amerikanischen und englischen Lehrer von dort abgezogen worden sind.Hoffnung ist zum Dauerzustand geworden: „Dass wir vielleicht wirklich keine Strahlung abbekommen. Ich gucke alle zwei Tage auf die Werte in der offiziellen Mess-Station – 20 Kilometer nördlich – für Leitungswasser. Das ist angeblich okay.“ Gebadet wird daheim. Doch getrunken wird nur abgefülltes Wasser. „Auch Milch aus Flaschen, wir kaufen alle Nahrungsmittel, Obst, Gemüse, Reis, Geflügel nur aus den entfernten Südprovinzen. Fisch überhaupt nicht, das Meer soll ja überall verseucht sein.“
Schlimm seien die Folgen für die Landwirte, sagt Sug: „Die Farmer werben, dass alles in Ordnung sei, aber sie bleiben auf der Ernte sitzen – denen droht der Ruin, weil keiner den Ausfall zahlt.“ Auch das Gewerbe am Strand nahe Hokota liegt brach, erzählt Sug: „Sonst ist es um diese Zeit proppenvoll mit Touristen und Surfern aus Tokio. Jetzt ist nichts los.“

Artikel vom 03.08.11 - 16:00 Uhr
 

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